Freiheit braucht Klimaschutz 27. Juli 20212. August 2021 Karlsruhe hat die Klimapolitik der Bundesregierung aufgemischt. Wieder einmal musste ein Gericht den Regierenden ihre Verpflichtungen erklären. Die Koalition ist blamiert, die Folgen des Urteils sind noch gar nicht absehbar. Klar ist aber: Konsequenter Klimaschutz ist keine unzulässige Freiheitsbeschneidung – im Gegenteil. Die Klimakrise hat uns längst eingeholt. Sie ist da und sie zwingt uns zum Handeln. Diese Realität ist endlich in der Breite der Gesellschaft angekommen. Das zeigt sich jetzt auch in der Rechtsprechung. In den Niederlanden hat kürzlich ein Gericht den Energiemulti Shell zu mehr Klimaschutz verurteilt – wenn auch zunächst in erster Instanz. Bei uns in Deutschland gibt es nun sogar einen bahnbrechenden Beschluss des Bundesverfassungsgerichts. Das höchste deutsche Gericht hat im April das schwache deutsche Klimaschutzgesetz als in Teilen nicht verfassungskonform verworfen. Es könnte die Freiheitsrechte kommender Generationen unzulässig einschränken, urteilten die Richter*innen. Mehrere Umweltverbände und Bürger*innen hatten im Januar 2020 Verfassungsbeschwerde gegen das unzureichende Gesetz eingelegt – mit durchschlagendem Erfolg. Wir Grüne im Bundestag haben uns immer dafür eingesetzt, dem Klimaschutz eine stärkere Position einzuräumen – und das ausdrücklich auch in der Verfassung. CDU/CSU und SPD aber haben sich dem beharrlich verweigert. Jetzt hat das Gericht die verfassungsrechtliche Bedeutung des Klimaschutzes klargestellt. Diese Entscheidung ist ein Meilenstein. Dass es sie jetzt endlich gibt, ist richtig und notwendig. Zugleich stellen die Karlsruher Richter*innen der Großen Koalition ein miserables Klimazeugnis aus. Das Verfassungsgericht mahnt jetzt das Handeln in der Klimapolitik an, das die Regierungen unter Kanzlerin Merkel in den vergangenen 16 Jahren nicht geliefert haben. BLICK ZURÜCK Seit Jahrzehnten wissen wir um die Bedrohung durch die Klimakrise. Die warnenden Voraussagen der Wissenschaft wurden fast immer von der Realität bestätigt oder sogar übertroffen. Das Abkommen von Paris aus dem Jahr 2015, auf dem die jetzige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Grundsatz beruht, war daher ohne Frage ein wegweisender Richtungswechsel. Doch seine Vorgeschichte reicht bis in die 1990er Jahre zurück. Bereits auf dem Weltgipfel für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro unterzeichneten 154 Staaten die Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (United Nations Framework Convention on Climate Change). 1994 trat sie in Kraft. Schon damals erkannte die internationale Staatengemeinschaft die globale Erwärmung als ernstes Problem an und verpflichtete sich zum Handeln. Wenige Jahre später, 1997, folgte das Kyoto-Protokoll. Es wurde bereits auf der dritten Vertragsstaatenkonferenz der Klimarahmenkonvention in Kyoto 1997 (COP 3) verabschiedet. Darin enthalten waren erstmals rechtsverbindliche Verpflichtungen für die Industrieländer, ihre Treibhausgasemissionen zu verringern. 191 Staaten haben das Protokoll ratifiziert – so auch Deutschland. Fast 30 Jahre hat es nun aber doch gedauert, bis in unserem Land der Klimaschutz durch Gerichtsbeschluss die Bedeutung bekommen hat, dieihm gebührt. ZUM HANDELN VERPFLICHTET Was bedeutet das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nun konkret? Nach der Entscheidung steht zunächst fest, dass unsere Verfassung den Staat zur Herstellung von Klimaneutralität verpflichtet. Das Gericht hat sich deutlich und mehrfach auf das noch verbleibende CO2-Budget bezogen, das der Sachverständigenrat für Umweltfragen errechnet hat. Es definiert, wie viel CO2 wir noch ausstoßen dürfen, um das Pariser Klimaabkommen zu erfüllen, also die globale Erhitzung auf deutlich unter 2 Grad, besser auf 1,5 Grad zu begrenzen. Damit hat das Ziel der Klimaneutralität Verfassungsrang bekommen. Die Bezugnahme auf das noch verbleibende Budget stellt die Dramatik der Situation klar. Wenn die Koalition es dabei belässt, irgendwelche Klimaschutzziele festzulegen, macht sie es sich zu einfach. Vielmehr müssen sich die Ziele daran orientieren, wie viel CO2 überhaupt noch in die Atmosphäre entlassen werden darf, um die Erderhitzung wirksam zu begrenzen. Auch das Argument, Deutschland könne die Klimakrise nicht allein bewältigen, ist aus Sicht des Gerichts nicht tragfähig. Denn Artikel 20a GG verlangt ein international ausgerichtetes Handeln Deutschlands zum globalen Schutz des Klimas. Die Bundesrepublik ist daher verpflichtet, im Rahmen internationaler Abstimmungen auch auf nationaler Ebene den Klimaschutz voranzubringen. FREIHEIT MORGEN Wesentliches Motiv der Entscheidung ist, die Freiheiten zukünftiger Generationen zu schützen (intertemporale Freiheitssicherung). Dazu zählen natürlich auch die jungen Menschen, die heute auf die Straße gehen oder mit Erfolg gegen ihre Erblasser vor Gericht ziehen. In der Konsequenz bedeutet das: Klimaschutz ist nicht ohne gewisse Einschränkungen grundrechtlicher Freiheiten zu machen. Um das Klima zu schützen, kann etwa das Angebot an Pkw mit klimaschädlichen Antrieben eingeschränkt oder können solche Antriebe absehbar sogar ganz vom Markt genommen werden. Angesichts der dramatischen Lage ist hier aus Sicht des Gerichts vorausschauendes Handeln das Gebot der Stunde. Denn wenn jetzt zu wenig beim Klimaschutz passiert und deshalb die Menschheitskatastrophe konkret einzutreten droht, müssten Einschränkungen dann umso schärfer ausfallen, um Schaden abzuwenden. Das Gericht erweitert den Schutz der Freiheitsrechte daher in die Zukunft: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet es, wenn nötig, heute Freiheitsbeschränkungen in Kauf zu nehmen, wenn absehbar ist, dass sonst in Zukunft weit härtere Einschränkungen drohen. Eine Last darf nicht unverhältnismäßig auf die nächste Generation verschoben werden. Die natürlichen Lebensgrundlagen sind so sorgsam zu erhalten, dass nachfolgende Generationen nicht in die Zwangslage kommen, sie nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit weiter zu bewahren. WEITREICHENDE KONSEQUENZEN Ob der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts auch auf andere Bereiche übertragbar ist, bleibt zu klären. Aber die Debatte um endliche Ressourcen und die damit verbundene Frage der Generationengerechtigkeit drängt sich hier natürlich auf. Denn nicht nur das Budget an CO2 ist begrenzt. Vor allem auch die Biodiversität ist endlich. Ressourcen wie Erze, Sand, Phosphor und seltene Erden sind ebenfalls irgendwann ausgeschöpft. Wenn wir sie heute ohne Rücksicht ausbeuten, könnte das kommende Generationen unzulässig in ihrer Freiheit beschränken. Vordiesem Hintergrund bekommt auch die Notwendigkeit der Abfallvermeidung, des überfälligen Einstiegs in die Kreislaufwirtschaft oder der Begrenzung des Flächenverbrauchs eine höhere Dringlichkeit. Auch hier müssen sich die bisher geltenden Maßnahmen daran messen lassen,welchen Handlungsspielraum sie zukünftigen Generationen gewähren. Denn wir wissen längst, dass wir auch beim Ressourcenverbrauch deutlich über unsere Verhältnisse leben. Die Frage, die dringend gestellt und sehr konkret beantwortet werden muss, lautet: „Was heißt das konkret für kommende Generationen und deren Freiheit zur Entwicklung?“ KLIMASCHUTZ IST FREIHEITSSCHUTZ Ein weiterer Aspekt des Urteils ist bemerkenswert: Teile der öffentlichen Meinung versuchen regelmäßig, Maßnahmen zum Klimaschutz als unzulässige Freiheitsbeschränkungen zu geißeln. Einem klimaschützenden Tempolimit schallt immer noch der Uralt-Slogan „Freie Fahrt für freie Bürger“ entgegen. Als die konventionellen und extrem stromhungrigen Glühbirnen in der EU vom Markt genommen wurden, schwärmten plötzlich viele von der „anheimelnden Wärme“ ihres Lichts, fühlten sich durch diese Maßnahme gegängelt. Ähnliches war zu beobachten, als etwa die EU sinnvolle Leistungsobergrenzen für Staubsauger einführte. Auch das galt nicht wenigen alsunzulässiger Eingriff in ihr Selbstbestimmungsrecht. Das Verfassungsgericht hat jetzt das Gegenteil festgestellt. Unterlassener Klimaschutz bedroht die Freiheit kommender Generationen. Wer also das Klima schützt, schützt die Freiheit. Das ist ein zentraler Punkt. Nur wenn wir jetzt entschieden handeln, bleibt kommenden Generationen noch genug „Luft“ zum Leben. Damit hat nun auch das Verfassungsgericht als Rechtsgrundsatz bestätigt, was für uns immer schon die Messlatte unseres politischen Handelns gewesen ist: „Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt.“ FREIHEIT HEUTE Doch wirksamer Klimaschutz sichert nicht nur kommenden Generationen Handlungsspielraum. Klimaschutz bringt uns auch schon heute Freiheiten, die sofort wirken. So macht uns die Energiewende unabhängiger von Energieimporten, weniger und sauberere Autos bringen uns mehr Freiraum in den Städten. Ein Wettbewerb um die besten Lösungen entfesselt die Kreativität, unsere Mobilität gewinnt durch ein besseres, vernetztes Angebot und klimafreundliche Lösungen. Auch das ein wichtiger Aspekt, der im Zusammenhang mit der Debatte um die Konsequenzen der gerichtlichen Entscheidung keinesfalls vergessen werden darf. Es geht eben nicht nur um die kommenden Generationen, sondern auch um uns. Klimaschutz macht uns schon heute in vielerlei Hinsicht freier, vermindert Abhängigkeiten und schafft neue Entfaltungsmöglichkeiten. ENDLICH ANPACKEN Deshalb gilt es jetzt, den Worten des Verfassungsgerichtes Taten folgen zu lassen. Die Überarbeitung des beanstandeten nationalen Klimaschutzgesetzes kann nur ein erster notwendiger Schritt sein. Denn darin sind erst einmal nur Ziele festgelegt. Ziele allein bringen aber noch keinen Klimaschutz. Wir brauchen jetzt schnell konkrete und wirksame Maßnahmen, die dafür sorgen, dass die Ziele tatsächlich eingehalten werden. Vor allem den Ausbau der erneuerbaren Energien müssen wir sofort beschleunigen und im Gegenzug den Kohleausstieg auf das Jahr 2030 vorziehen. Die Ausbaupfade für die Erneuerbaren müssen deutlich angehoben werden. Bürokratische Hürden, die dem im Wege stehen, wollen wir abbauen. Solar auf unseren Dächern wird zum Standard. Und die Bundesländer haben die Pflicht, ausreichende Flächen für den Ausbau erneuerbarer Energien zur Verfügung zu stellen. Eine Windenergie-Verhinderungspolitik, wie die Ministerpräsidenten Laschet und Söder sie betreiben, gefährdet den Klimaschutz und letztlich auch den klimaneutralen Industriestandort Deutschland. Die Verkehrswende wie die Agrarwende gehören in den Kanon längst überfälliger Projekte, die wir entschlossen auf den Weg bringen müssen, ebenso wie eine Klima- und Sanierungsoffensive bei Gebäuden. Wir haben unsere Änderungsvorschläge in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts gibt den nötigen Rückenwind, diese Dinge jetzt endlich anzupacken. Autor*innen des Artikels sind die GRÜNEN Bundestagsabgeordneten Dr. Anton Hofreiter (Fraktionsvorsitzender), Lisa Baldum (Sprecherin für Klimapolitik) und Oliver Krischer (stellv. Fraktionsvorsitzender). Der Artikel ist erschienen in der Juli-Ausgabe von „PROFIL GRÜN – Das Magazin der Bundestagsfraktion“.